Liebes Praxisteam,

ich  hatte heute Morgen einen Termin bei meinem Neurologen. Als ich in der Wartereihe vor den Arztzimmern im Rollstuhl saß, lief eine junge Frau, weinend und schluchzend an uns 5 wartenden Personen vorbei. Sie war in Begleitung einer medizinischen Fachangestellten und wurde in ein Zimmer gesetzt. Wir wartenden Menschen blickten beschämt zur Seite oder starrten die Frau an. Es war zum fremdschämen. Diese Frau leidete und hatte sichtbar und spürbar Angst. Ihr habt sie vorgeführt, ohne Euch dabei etwas zu denken. Das war Menschenverachtend.

Dann saß die Frau im Behandlungszimmer. Kurz darauf öffnete sie mit rot verweinten Augen die Tür. Sie blickte zum Boden und sah meinen Rollstuhl. Sie begann unvermittelt zu schluchzen,  sah sie kurz auf und ich konnte deutlich spüren, wie die Angst sie gerade überrollte. Ich hielt ihr wortlos ein Taschentuch hin. Sie verschwand wieder im Behandlungszimmer. In meiner Magengrube machte sich ein Unbehagen breit. Ich musste noch warten.

Der Arzt kam aus dem Behandlungszimmer der Frau und gab an den Empfang diskrete Arbeitsanweisungen. Er verschwand in einem anderen Zimmer, die Frau saß alleine in einem Behandlungsraum. Ich und 4 weitere Personen in einem Bereich vor den Behandlungsräumen. Dann bekam ich laut und deutlich folgendes Telefongespräch mit:

“ Unsere Patientin braucht heute noch dringend einen MRT – Termin zur MS – Verlaufskontrolle “

„Morgen ist zu spät, sie hat gerade einen akuten Schub. Dieses Mal schlägt er auf die Beine.“

„Ja, wir werden heute auf jeden Fall mit der Cortisoninfusionstherapie beginnen.“

„Melanie Müller geb. 1.1.1984. Gut, vielen Dank. “

Ich saß sprachlos da. Kurz darauf wird die Tür in den Behandlungsraum von einer weiteren Mitarbeiterin geöffnet. „Ich nehme sie jetzt mit, wir beginnen mit der Cortisontherapie und MRT – Termin haben sie heute um 14 Uhr in der Praxis  Dr. XY.“

Mit ein paar Worten, in weniger als 5 Min kannte ich – und nicht nur ich – die Krankheitsgeschichte einer mir total unbekannten Frau. Ich kannte  ihren Namen, wusste, dass sie kaum älter ist als ich, musste intime Dinge über jemanden erfahren, der selbst keine Ahnung hatte, wie viele fremde Menschen das mitbekommen.

Schweigepflicht ist das oberste Gebot in einer Arztpraxis

Liebes Praxisteam,

so funktioniert das nicht. Es gibt eine ärztliche Schweigepflicht und Menschenwürde. Ihr habt heute innerhalb von ein paar Minuten gegen alle diese Dinge grob fahrlässig verstoßen. Einen stressigen Alltag, Notfälle usw. mögen Euch in eine angespannte Lage bringen, aber dennoch .So geht das nicht!

Nicht nur, dass hier gegen Gesetzte verstoßen wird. Es geht um Menschen und nicht nur um irgendwelche Diagnoseschlüssel. Bitte überlegt wie ihr euch fühlen würdet, wenn ihr in so einer Situation wärt. Ihr habt Türen, die man schließen kann um zu telefonieren. Ein Päckchen Taschentücher in einem Behandlungsraum schadet nicht. Wir kommen zu euch, weil wir Hilfe von Euch erwarten. Auch negative Diagnosen, die überbracht werden müssen, sollten in irgendeiner Art und Weise begleitet werden. Die Hilflosigkeit, Verzweiflung und Angst müssen in einem geschützten Rahmen einen Platz finden.

Und niemanden!!!!! sonst in dieser Praxis, geht die Diagnose, die Weiterbehandlung oder der aktuelle Stand etwas an.

Danach hatte ich meinen Termin – bei einem anderen Arzt. Dennoch musste ich zunächst meinem Unmut Luft machen. Wir besprechen danach das weitere Vorgehen, als mir mein Arzt mitteilt: „Liebe Wheelymum, ich mache mir Sorgen um Sie. Leider ist das aktuell zu umfangreich. Bitte kommen Sie nächste Woche, nach meiner Sprechstunde, mit ihrem Mann vorbei. Dann können wir in Ruhe sprechen.“

Ähm… ja danke. Empathie und Verantwortungsbewusstsein war heute wohl leider nicht im Angebot in der Praxis.

Bitte, bitte vergesst nicht, dass ihr mit Menschen arbeitet. Wir sind mündige und vollwertige Menschen, wir wollen gesehen und geachtet werden. Egal in welcher Situation.

 

Wartezimmer Arzt.jpg

 

Im Fahrstuhl später traf ich auf die Frau, deren Krankheitsgeschichte ich nun kannte. Ich wusste nicht wo ich hinschauen sollte, so beschämt war ich in diesem Moment. Sie bedankte sich bei mir, für das Taschentuch und entschuldigte sich für ihr Verhalten. Ich meinte nur, ich weiß wie es ist, wenn einfach alles gerade zuviel ist und der Boden unter einem wackelt. Sie lächelte mich kurz an und erzählte mir dann, überraschend offen, davon, dass sie zu Hause ein kleines Kind hat und als sie mich im Rollstuhl sah, sie sich vorstellte, wie das wohl wäre, wenn sie nun, als Mama, im Rollstuhl sitzen würde.

Das gab ihr den Rest.

Eine Mama im Rollstuhl, das kann sie sich nicht vorstellen.

Ich habe sie angelächtet und ihr ganz kurz erzählt, dass auch das geht.

Wir haben unsere Nummern ausgetauscht. Jetzt muss aber erst mal jede ihre Nachrichten verarbeiten.

 

 

 

 

 

 

 

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12 Gedanken zu “Eltern mit Behinderung: Eine Begegnung

  1. Wow… Ich weiß gerade ehrlich gesagt gar nicht was ich dazu schreiben soll. Ich bin wirkich fassungslos über so wenig Menschlichkeit. Wie kann man nur so Gefühllos sein? ….

    Immerhin, denke ich, hast du der Frau etwas Mut gemacht und das ist wohl etwas Trost!

    Sonnige Grüße.

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  2. Dein Beitrag verursacht Gänsehaut auf so vielen Ebenen. Entsetzen über die mangelnde Diskretion und Empathie der Praxis, Mitgefühl für die Frau und auch etwas Dankbarkeit, dass gerade Du dort gewesen bist. Ich glaube, es hat ihr Mut gegeben euer kurzes Fahrstuhlgespräch.
    Alles Liebe, Juli

    Gefällt 1 Person

  3. Oh das hört sich wirklich chaotisch in der Praxis an und ist ein absolutes NO GO!!!
    Da ich ja auch MS habe, kann ich das sehr gut nachempfinden… da kann ich nur den Kopf schütteln….
    Die junge Frau hat leider gerade am Anfang eine sehr schlechte Erfahrung gemacht. Ich hoffe sie wird für die Zukunft gut betreut und bekommt von ihrem Umfeld Hilfe und Unterstützung.
    Aber wie Du schon schreibst…. das Leben geht weiter und funktioniert auch im Rollstuhl, auch mit Kindern.
    UND: MS heißt nicht gleich Rollstuhl. Bei Fragen, kann sie gerne mit mir Kontakt aufnehmen…. die Welt dreht sich auch mit MS weiter und ist schön 🙂

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  4. Dein Post hat mich gerade sehr berührt. Ich finde es wunderbar, dass Du in einem tiefschwarzen Moment für diese Frau ein Anker der Hoffnung sein konntest. Mit Taschentuch, Herzenswärme und Empathie. #mykindofgirl

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  5. Ich glaube genau Du hast da heute sein sollen, mit Deinem ruhigen und strahlenden Wesen. So hab ich dich jedenfalls letztes Wochenende kennen gelernt. ❤ Ich drücke Dir alle Daumen, dass der blöde Arzt nur dramatisiert hat. Der Spruch hat mich heute Mittag auf Twitter schon empört. Alles Gute ❤

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